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Freitag, 22. August 2008

Auch Figuren haben eine Biografie (Ihre Figuren. II)


Ihre Figuren atmen und handeln, sie sind mehrdimensional. Um sie zum Leben zu erwecken, müssen Sie alles über sie wissen – was sie antreibt, umtreibt, was sie fühlen, worüber sie sich ärgern und freuen. Sie haben Vorlieben, Vorurteile, Talente, Rituale, Schulden, Krankheiten, Schmerzen. Sie träumen und sie lügen. Sammeln Sie Informationen zu diesen Themen, aber auch zur Zeit (wann wurde welche Schlager im Radio gedudelt, wann waren Petticoats, gebatikte indische Kleider, Jeans mit Löchern modern, wer war wann Bundeskanzler, Bundespräsident, welche Parteien regierten?), und Wetter (schließlich beeinflusst es mehr oder weniger unseren Alltag, also auch den Ihrer Figuren; nicht ohne Grund beginnen viele Geschichten damit) – Ihrer Phantasie sind keine Grenzen gesetzt.

Sammeln Sie Zeitungsartikel und Fotografien aus allen Gebieten wie Sport, Tagesgeschehen, Kunst, Klatsch und Tratsch, damit Sie jederzeit Vorlagen haben, wenn Sie sich ein Bild vom Umfeld Ihrer Figuren machen möchten. Denken Sie daran: Ihre Figuren leben nicht im luftleeren Raum. Thomas MANN legte sich zu jedem Thema Mappen an, in denen er alle Fotos aus Illustrierten sammelte, die dazu passten. Bilder von Krankenhäusern halfen ihm beim Schreiben von Krankenhausszenen, solche von Lokomotiven und Bahnhöfen beim Schreiben über Abschiede. Beschreiben Sie Straßen, Plätze, Läden, Sehenswürdigkeiten, die Sie bei einem Spaziergang in Ihrer Stadt oder auf Reisen sehen (hier dürfen Sie nach Herzenslust beschreiben (siehe die Beiträge übers Erzählen).

Schreiben Sie zu jeder Figur eine Biografie, damit Sie Sie sie kennen lernen, mit allen Einzelheiten zur Kindheit, zum familiären Hintergrund, aber auch zu Freundschaften, zu Ausbildung und Beruf, zum Alter. Welche seelischen Verletzungen haben sie erlitten und welche Glanzleistungen vollbracht? Was essen sie gern (oder auch nicht), wie kleiden sie sich? Welche Macken haben sie? – Überlegen Sie, was sie von den anderen Figuren unterscheidet, denn jede Figur muss anders sein. Freundinnen mögen sich zwar im realen Leben ähneln, aber den Leser langweilt das. – Aber auch:
  • Wie sehen Ihre Figuren aus? Sie sollten sie vor sich sehen wie auf einer Fotografie (welche Augenfarbe, Haarfarbe, aber auch: wie klingt die Stimme, sind sie kurzsichtig oder weitsichtig);
  • welchen Körperbau haben sie (wie Größe, ob gelenkig, knochig, schlank/dick, arm an Gestik und Mimik);
  • Informationen zur Religions(Sekte)-/Partei- oder Vereinszugehörigkeit (wie Greenpeace oder Mitglied in einem Kirchenchor);
  • zu Charaktereigenschaften (wie charismatisch/graue Maus, ehrlich/unehrlich/lügt gern, emotionell/gefühlslos, entschlossen/unentschlossen, fleißig/faul, geduldig/ungeduldig, Führernatur (Führungsqualitäten)/Mitläufer, Kämpfernatur/wirft schnell die Finte ins Korn, konsequent/inkonsequent, mutig/feige, offenherzig/zugeknöpft, Optimist/Pessimist, Partymensch/Einzelgänger, selbstbewusst/voller Minderwertigkeitskomplexe, selbstlos/egoistisch (voller Eigenliebe), treu/untreu, offen/hinterhältig, stur, tolerant, vertrauensselig/misstrauisch/argwöhnisch, arrogant, dominant, eifersüchtig, gerecht leicht beinflussbar, nachtragend, willensstark, zerstreut; neigen sie zur Selbstüberschätzung, sind sie hilfsbereit, gierig, gastfreundlich (und weitere der rund fünftausend Eigenschaften, die ein Mensch so hat, siehe http://juttas-schreibtipps.blogspot.com/2008/08/heldinnen-und-bsewichter-ihre-figuren-i.html);
  • wie sind sie im Umgang mit anderen (wie kontakfreudig, kontaktarm; berühren sie gern andere Menschen, umarmen sie sie bei der Begrüßung);
  • aber auch Infos zu Lastern (sind sie abergläubisch, rauchen sie, trinken sie gern ein Gläschen, sind sie ein Putzteufel);
  • zu Vorlieben und Hobbys wie Blumenpflege und Gärtnern (welche Blumen und Pflanzen mögen sie; welche nicht), Kochen (was kochen sie gern), Lesen (was für Bücher lesen sie gern bzw. nicht gern), Musizieren (welche Komponisten mögen sie, welche Musikrichtung und welche nicht), Töpfern;
  • zu Abneigungen wie putzen, kochen, aufräumen, sich unter Menschen begeben, aber auch Ängste, Zwänge und Panikattacken;
  • zu Begabungen wie zum Beispiel für Mathematik, Kunst, Sprachen, und natürlich auch das, was sie nicht können.
Wie sind die Wohnverhältnisse? Malen Sie einen Plan mit allen Einzelheiten: Wohnung – Bungalow oder Plattenbau –, Einrichtung – wo stehen Herd und Bett, wie sind die Wände tapeziert, mit Blümchen- oder Raufasertapete; hängen an den Fenstern Wolkenstores oder Lamellen? Blättern Sie in Möbelkatalogen, stöbern Sie in Immobilienanzeigen. Elizabeth GEORGE dachte sich, bevor sie Auf Ehre und Gewissen zu schreiben begann, ein Internat aus (aber erst nachdem sie neun verschiedene Schulen besucht hatte, zeichnete dessen Grundriss, beschriftete die Räume und möblierte sie, und hängte ihn an die Wand, bis sie das Buch fertiggeschrieben hatte.

Patricia HIGHSMITH erzählt, dass sie
»einmal während der Hochsaison zu Weihnachten in einem Warenhaus … gearbeitet (hat). Da war ein Chaos von Details, Geräuschen, Menschen und einem neuen, ziemlich hektischen Tempo: ein endloser Strom kleiner Dramen, die man bei Kunden, Mitarbeitern und den recht selbstherrlichen Managern beobachten konnte. Diesen neuen Schauplatz habe ich in meiner Schreiberei voll ausgenutzt. Als Schriftsteller sollte man sich auf jede neue Szene stürzen, die einem in den Weg kommt, sich Notizen machen und sie an der richtigen Stelle verwenden. Das gleiche gilt für neue Städte, Großstädte und Länder, ja sogar für neue Straßen. Eine verwahrloste Straße irgendwo, voll von Mülleimern, Kindern und streunenden Hunden, ist für die Phantasie ein ebenso fruchtbares Feld wie ein Sonnenuntergang am Kap Union, wo Byron seinen Namen in eine der Marmorsäulen des Apollotempels geritzt hat.«
Einen guten Link zu Profilerstellung habe ich hier gefunden.

Sammeln Sie lieber zu viele als zu wenige Informationen. Sie müssen nicht alle verwerten, Sie müssen nur wissen, dass sie zu Ihren Figuren gehören und ihr Verhalten prägen.
Für FLAUBERT gibt es »zahlreiche Einzelheiten, die ich nicht aufschreibe [zu Madame Bovary, jmw]. So war für mich Herr Hornais leicht pockennarbig. – In dem Abschnitt, den ich augenblicklich schreibe, sehe ich ein ganzes Mobiliar (einschließlich der Flecken auf den Möbeln), von dem kein einziges Wort gesagt wird.

Sie vermeiden mit den Aufzeichnungen auch, dass Sie einer Figur auf Seite 150 eine völlig andere Charaktereigenschaft oder Augenfarbe zuweisen als am Anfang oder gar den Überblick verlieren. BALZAC benutzte Puppen, um sich beim Schreiben nicht zu verheddern: Wer gestorben war, verschwand in einer Kiste.

Nebenbei: Um Figuren zu entwerfen, können Sie einen Trick anwenden, den schon SHAKESPEARE benutzte: Suchen Sie sich einen Schauspieler oder eine andere reale Figur als Vorbild für eine Figur und übernehmen Sie dessen Körpersprache, Ausdrücke, die Art sich zu geben, zu bewegen, Gefühle zu zeigen. Recherchieren Sie über sein Privatleben, um ihn näher kennenzulernen.

Und nun fragen Sie sich noch, ob Sie Figuren eingeführt haben, in die sich der Leser hineinversetzen, mit der weinen und lachen kann. Führen Sie aber auf den ersten Seiten nicht jede Figur mit all ihren Lebensumständen und Eigenschaften ein; nach den nächsten zehn Seiten hat der Leser die Hälfte vergessen und weiß nicht mehr, wer was ist oder was wer wann warum wo tut. Doch sollte er seinen Leser nicht seitenlang auf die Folter spannen, bis die Heldin erscheint, nach zwei Seiten möchte der Leser zumindest wissen, mit wem er es hauptsächlich zu tun hat. Nach einem Drittel des Buches sollten Sie allerdings keine Figur mehr einfügen.

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